
Flensburg lag still unter einem grauen Himmel, während sich das Wasser im Hafen sanft bewegte. Die Möwen kreisten über den alten Holzstegen, auf denen Fischer ihre Netze flickten und Seeleute ihre Boote für die nächste Fahrt vorbereiteten. Die Stadt war ein Ort voller Geschichte – jede Straße, jeder Kai, jedes Gebäude erzählte von einer Zeit, in der Schiffe mit exotischen Waren in den Hafen einliefen und Kaufleute ihre Geschäfte tätigten. Heute waren Anna und die Kinder hier, um eine ganz andere Spur zu verfolgen.
„Also, der alte Seemann, von dem Petersen gesprochen hat, soll hier am Hafen gewesen sein,“ sagte Lukas und hielt die Karte hoch, die sie in der Hütte gefunden hatten. „Aber wir haben keinen Namen.“
„Nur den Hinweis, dass er ‚der Alte mit dem Fernrohr‘ genannt wurde,“ fügte Mia hinzu.
Anna blickte sich um. Der Hafen war geschäftig, aber nicht hektisch. Es war die Art von Ort, an dem die Zeit anders zu laufen schien – langsamer, aber bedeutungsvoll. Sie sah einige ältere Fischer, die sich unterhielten, während sie Fische aus Kisten sortierten. Wenn jemand etwas über den Mann mit dem Fernrohr wusste, dann sie.
Sie gingen zu einer kleinen Gruppe von Männern, die an einem alten Boot lehnten und Pfeife rauchten. Einer von ihnen, ein hagerer Mann mit wettergegerbtem Gesicht, blickte auf, als sie sich näherten.
„Ihr seht nicht aus wie Touristen,“ stellte er fest.
„Sind wir auch nicht,“ sagte Anna freundlich. „Wir suchen jemanden. Einen alten Seemann, der hier oft war – man nannte ihn den Alten mit dem Fernrohr.“
Die Männer tauschten Blicke aus. Einer von ihnen schnaubte. „Der alte Magnus,“ murmelte er. „Er war ein komischer Kauz. Er saß oft dort drüben am Kai, immer mit seinem Fernrohr auf den See hinaus. Hat gesagt, dass er nach etwas sucht.“
„Nach was?“ fragte Lukas.
Der Fischer zuckte mit den Schultern. „Hat er nie gesagt. Nur, dass es ’noch da draußen‘ sei. Und dass es eines Tages zurückkehren würde.“
„Ist er noch hier?“ fragte Mia.
Der Mann lachte leise. „Magnus? Nein, mein Kind. Der ist vor Jahren verschwunden. Eines Tages war er einfach nicht mehr da. Manche sagen, er sei wieder aufs Meer hinausgefahren, andere sagen, er sei auf der Suche nach dem, was er glaubte, verloren zu haben.“
Finn runzelte die Stirn. „Hat er jemals etwas hinterlassen? Notizen, Karten, irgendetwas?“
Der Fischer überlegte kurz. „Vielleicht im alten Lagerhaus. Magnus hatte dort seinen Platz. Aber das Ding steht seit Jahren leer.“
Anna nickte. „Dann sollten wir uns das ansehen.“
Sie verließen den Hafen und folgten den Anweisungen des Fischers zu einem alten, halb verfallenen Lagerhaus am Rande des Kais. Die Tür war verschlossen, aber Petersen, der sie begleitet hatte, trat vor und versuchte sein Glück. „Manche Schlösser brauchen nur eine freundliche Hand,“ murmelte er und zog ein altes Taschenmesser hervor. Mit einem leichten Ruck sprang das Schloss auf.
Drinnen war es dunkel und roch nach Salz, Holz und verrostetem Metall. Staub tanzte im Licht, das durch die zerbrochenen Fenster fiel. Kisten, alte Netze und verlassene Ausrüstungen lagen überall verstreut. Es war ein Ort, der Geschichten erzählte – Geschichten von Männern, die zur See fuhren und nie zurückkehrten.
„Wir suchen nach irgendetwas, das Magnus gehört haben könnte,“ sagte Anna.
Die Kinder durchsuchten die Regale, und nach wenigen Minuten rief Mia: „Hier! Das sieht aus wie ein altes Notizbuch.“
Sie zog ein ledergebundenes Buch aus einem Stapel alter Karten. Es war vergilbt, aber noch lesbar.
„Lies vor,“ sagte Lukas.
Mia blätterte durch die Seiten und begann zu lesen. „‚Ich habe die Zeichen gesehen. Sie kehren zurück, genau wie damals. Ich weiß, dass sie mich beobachten. Wenn ich verschwinde, wird es sein, weil ich zu nah dran war. Der See vergisst nichts.‘“
„Das klingt, als ob er wusste, was wir jetzt herausfinden,“ sagte Finn leise.
„Aber was bedeutet es?“ fragte Lea.
Anna schloss das Buch vorsichtig. „Das bedeutet, dass wir noch nicht am Ende sind. Wir müssen herausfinden, was Magnus wusste – und was er gefunden hat, bevor er verschwand.“
Während sie das Lagerhaus verließen, fiel ihr Blick auf einen kleinen Stapel aus verrosteten Seilrollen und alten Seekarten. Und direkt darauf – ein Fernrohr.
„Das gehörte ihm,“ sagte Petersen leise.
Anna hob es auf und hielt es gegen das Licht. Das Glas war zerkratzt, aber funktionstüchtig. Sie nahm es mit sich. Vielleicht lag darin die Antwort, die sie suchten.
Doch als sie zurück zum Hafen gingen, bemerkte Lukas, dass sie beobachtet wurden.
„Da drüben,“ sagte er leise.
Auf der anderen Seite des Kais stand eine Gestalt, verborgen im Schatten eines Schuppens.
„Wer ist das?“ fragte Mia.
Niemand konnte es genau sagen.
Doch als sie näher kamen, war die Gestalt verschwunden.