
Der Morgen begann kühl in Oeversee. Der Herbst machte sich langsam bemerkbar, und ein sanfter Nebel lag über den Feldern, während die ersten Sonnenstrahlen durch die dichten Baumkronen drangen. Die kleine Dorfstraße, die zum Nahkauf führte, war noch ruhig, doch in den Häusern regte sich bereits das Leben. Küchenfenster standen offen, Kaffeeduft lag in der Luft, und das leise Klappern von Geschirr und Stimmen vermischte sich mit dem Rufen der Krähen.
Anna war früh aufgebrochen, um einige Besorgungen für das Hotel zu erledigen. Das Erntedankfest hatte die Vorräte stark beansprucht, und sie wollte sicherstellen, dass genug frische Lebensmittel für die kommenden Tage vorhanden waren. Der Nahkauf in Oeversee war nicht groß, aber er hatte alles, was man brauchte, und vor allem: Hier erfuhr man immer die neuesten Nachrichten aus dem Dorf.
Als sie ihr Auto auf dem kleinen Parkplatz abstellte, bemerkte sie, dass der Laden bereits gut besucht war. Vor dem Eingang standen zwei ältere Frauen, die sich über das aktuelle Dorfgeschehen austauschten, während ein Mann mit einem Jutesack aus dem Laden trat und eine Apfeltasche in die Tasche seiner Jacke steckte.
„Guten Morgen, Anna!“ rief eine der Frauen, als sie sich näherte.
„Morgen, Frau Meier,“ erwiderte Anna freundlich.
„Du kommst ja nicht oft nach Oeversee zum Einkaufen,“ stellte Frau Meier fest. „Probleme mit den Lieferanten?“
Anna schüttelte den Kopf. „Nein, ich wollte nur ein paar frische Sachen holen – und vielleicht ein bisschen Dorfleben mitbekommen.“
Frau Meier lachte leise. „Dorfleben gibt es hier genug. Hast du schon gehört, was Jansen erzählt?“
Anna ahnte es bereits. „Lassen Sie mich raten – es geht um den See?“
Frau Meier nickte bedeutungsvoll. „Er sagt, dass er gestern Abend Lichter auf dem Wasser gesehen hat. Bewegliche Lichter. Und dass der See sich anders anfühlt als sonst.“
„Jansen sieht oft Dinge, die sonst niemand sieht,“ mischte sich die zweite Frau ein.
„Ja, aber diesmal klingt er überzeugter als sonst,“ entgegnete Frau Meier. „Vielleicht ist ja doch etwas dran.“
Anna nickte nachdenklich, verabschiedete sich und trat in den Laden. Der vertraute Geruch nach frischen Brötchen und Kaffee empfing sie, während die alten Holzregale eine wohlige Gemütlichkeit ausstrahlten. In einer Ecke stand ein Mann und studierte die Wochenangebote für Käse und Butter, während die Kassiererin sich mit einem Kunden über das Wetter unterhielt.
Dann fiel Annas Blick auf Diana.
Diana stand lässig an der Kasse, eine geöffnete Flasche Astra in der Hand, während sie sich mit der Kassiererin unterhielt. Sie lachte über eine Bemerkung und nahm einen Schluck Bier. Diana war eine dieser Personen, die einfach immer da waren, aber nie wirklich eine Rolle spielten. Sie hatte ihren eigenen Rhythmus, tauchte mal hier, mal dort auf, schien das Leben mit einer Gelassenheit zu nehmen, um die viele sie beneideten.
„Moin, Anna,“ sagte sie mit einem entspannten Lächeln, als sie sie bemerkte.
„Moin, Diana,“ erwiderte Anna und nahm einen Einkaufskorb. „Wie läuft’s?“
„Wie immer,“ sagte Diana schulterzuckend. „Man lebt, man trinkt, man hört Geschichten über den See.“
„Oh, du auch?“ fragte Anna mit einer hochgezogenen Augenbraue.
„Es gibt immer Geschichten über den See,“ sagte Diana. „Und jetzt erst recht. Die Leute drehen langsam durch, wenn du mich fragst. Aber vielleicht ist ja wirklich was dran.“
Anna wollte gerade etwas erwidern, als sich die Tür öffnete und Herr Petersen hereinkam. Der alte Fischer hatte einen ernsten Ausdruck auf dem Gesicht und ging direkt auf Anna zu.
„Hast du schon gehört, was heute Nacht passiert ist?“
Anna stellte ihren Einkaufskorb ab. „Nein, was denn?“
„Ein paar von uns haben sich am Steg getroffen. Jansen war dabei, und auch ein paar von den Jungen aus dem Dorf. Sie wollten sehen, ob sie die Lichter wiederfinden. Und dann – plötzlich – war da dieses Geräusch. Tief, dumpf. Ein Grollen. Nicht laut, aber man konnte es spüren.“
Anna schüttelte den Kopf. „Und ihr seid sicher, dass es nicht nur der Wind war? Oder ein Boot?“
Petersen sah sie lange an. „Ich bin Fischer, Anna. Ich kenne den See. Und das hier – das war etwas anderes.“
Während sie noch sprachen, kam Frau Alva mit einer Einkaufstüte aus einem der Regale. „Ach, ich hab’s mir schon gedacht, dass ihr euch hier wieder über den See unterhaltet,“ sagte sie schmunzelnd. „Wenn das so weitergeht, sollten wir Eintritt verlangen.“
„Vielleicht sollten wir herausfinden, was los ist, anstatt zu spekulieren,“ sagte Anna.
„Ja,“ sagte Petersen. „Und vielleicht sollten wir es tun, bevor es jemand anderes tut.“
Die Worte blieben im Raum hängen. Es war nicht mehr nur eine Geschichte. Es war nicht mehr nur ein Gerücht. Der See war dabei, seine Geheimnisse preiszugeben – ob das Dorf bereit war oder nicht.
Während Anna ihre Einkäufe erledigte, konnte sie das Gefühl nicht loswerden, dass sie beobachtet wurde. Vielleicht war es nur Einbildung. Vielleicht auch nicht.
Als sie später ins Hotel zurückkehrte, lag der See still unter dem blassen Himmel des Nachmittags. Doch in der Ferne, nahe der Stelle, an der die Kinder das Licht gesehen hatten, kräuselte sich das Wasser – als ob etwas darunter lauerte und darauf wartete, entdeckt zu werden.