
Die Sonne stand hoch am Himmel, als das Boot sanft auf den leichten Wellen des Sankelmarker Sees schaukelte. Die Kinder und Anna hielten den Atem an, während sie die alte, verrostete Glocke aus dem Wasser hoben. Ihre Oberfläche war von Algen bedeckt, das Metall von den Jahren unter Wasser stark angegriffen. Doch trotz der offensichtlichen Spuren der Zeit war etwas an ihr, das sofort ihre Aufmerksamkeit fesselte.
„Sie sieht genau aus wie die Glocke, die wir im Keller des Hotels gefunden haben,“ murmelte Mia.
„Aber warum war sie hier unten?“ fragte Finn. „Und warum ist sie jetzt an die Oberfläche gekommen?“
Anna betrachtete das schwere Stück Metall nachdenklich. „Vielleicht hat der See sie uns zurückgegeben.“
„Oder sie wurde absichtlich dort versteckt,“ überlegte Lukas. „Jemand wollte nicht, dass sie gefunden wird.“
Die Kinder halfen dabei, die Glocke vorsichtig ins Boot zu legen. Das Wasser lief in dünnen Strömen von ihrer Oberfläche, und als sie sie genauer betrachteten, entdeckten sie feine Gravuren – Zeichen, die denen ähnelten, die sie auf der alten Karte gefunden hatten.
„Diese Symbole,“ sagte Lea leise, „sind dieselben wie auf den Ritualzeichnungen.“
„Dann ist es vielleicht keine gewöhnliche Glocke,“ sagte Anna.
Petersen, der das Geschehen vom Ufer aus beobachtet hatte, half ihnen dabei, das Boot ans Land zu ziehen. „Ich habe so etwas schon einmal gesehen,“ sagte er nachdenklich. „Mein Großvater erzählte mir Geschichten über eine Glocke, die einst benutzt wurde, um den See zu beruhigen. Aber ich habe nie gedacht, dass sie echt war.“
„Vielleicht war sie das immer,“ sagte Mia. „Aber die Geschichte wurde vergessen.“
„Bis jetzt,“ fügte Finn hinzu.
Während sie die Glocke aus dem Boot hoben und ans Ufer trugen, wurde ihnen klar, dass sie etwas wirklich Bedeutendes gefunden hatten. Doch was bedeutete es für die Gegenwart?
Zurück im Hotel Seeblick herrschte reges Treiben. Gäste saßen auf der Terrasse, das Personal bereitete das Mittagessen vor, und in der Lobby summten leise Gespräche über das mysteriöse Licht auf dem See. Anna war sich sicher, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis die Entdeckung der Glocke die Runde machte.
„Wir sollten mit Frau Lund in der Akademie sprechen,“ schlug Anna vor. „Vielleicht kennt sie die Geschichte dieser Glocke.“
„Und was ist, wenn wir sie läuten?“ fragte Lukas plötzlich.
Alle sahen ihn an.
„Denk doch mal nach,“ fuhr er fort. „Wenn sie früher benutzt wurde, um den See zu beruhigen, dann könnte sie vielleicht auch jetzt eine Wirkung haben.“
„Oder sie weckt etwas auf, das besser ruhen sollte,“ entgegnete Mia skeptisch.
Anna legte eine Hand auf die Glocke. „Wir müssen vorsichtig sein. Aber zuerst müssen wir verstehen, was wir hier wirklich gefunden haben.“
Während der Nachmittag verstrich, machte sich eine gespannte Stille im Hotel breit. Die Kinder saßen in der Lobby über ihre Notizbücher gebeugt, Petersen hatte sich in einen Sessel zurückgezogen, und Anna konnte spüren, dass etwas in der Luft lag.
Als die Dämmerung einsetzte, kam eine ältere Frau ins Hotel, die sie nur flüchtig kannte. Frau Meier. Sie hatte sich bisher aus den Diskussionen herausgehalten, doch jetzt trat sie mit ernster Miene an den Tisch.
„Ihr habt die Glocke gefunden,“ sagte sie schlicht.
„Ja,“ bestätigte Anna. „Kennen Sie sie?“
Die alte Frau nickte langsam. „Meine Großmutter hat mir von ihr erzählt. Sie sagte, dass sie einst dazu diente, das Gleichgewicht zu bewahren. Doch irgendwann wurde sie versenkt. Niemand wusste genau, warum.“
„Dann war es also Absicht?“ fragte Lukas.
„Es sieht ganz danach aus,“ sagte Frau Meier. „Und vielleicht war es gut so.“
Die Worte hingen schwer in der Luft. Niemand wusste, was sie als Nächstes tun sollten. Doch eine Sache war klar: Die Glocke war nicht ohne Grund zurückgekehrt.
Und der See hatte noch nicht seine letzte Geschichte erzählt.