
Die alte Glocke stand auf dem massiven Holztisch in der Lobby des Hotels Seeblick. Ihr Metall war rau, verwittert und mit Algenflecken überzogen. Doch unter der Korrosion schimmerten Gravuren, die auf eine vergangene Bedeutung hindeuteten. Anna, die Kinder und Fischer Petersen standen um sie herum, während Frau Meier, eine der ältesten Dorfbewohnerinnen, mit ruhiger Stimme sprach.
„Es ist viele Jahre her, dass ich das letzte Mal von dieser Glocke gehört habe,“ sagte sie und fuhr mit den Fingern über die Gravuren. „Meine Großmutter erzählte mir, dass sie einst eine besondere Aufgabe hatte. Sie wurde nicht nur geläutet, um die Fischer sicher nach Hause zu rufen, sondern auch, um das Gleichgewicht des Sees zu bewahren.“
„Das Gleichgewicht?“ fragte Lukas. „Was bedeutet das genau?“
Frau Meier blickte auf das Wasser hinaus, das in der Ferne durch das große Fenster zu sehen war. „Man sagt, dass der See mit den Menschen verbunden ist. Dass er auf das reagiert, was wir tun. Die Glocke war ein Teil davon. Doch irgendwann hat man entschieden, sie zu versenken. Manche sagen, aus Angst. Andere, weil sie etwas geweckt hatte, das besser geschlafen hätte.“
Ein leises Knistern ging durch den Raum. Anna spürte, wie sich die Anspannung unter den Kindern verstärkte. Finn hatte sein Notizbuch geöffnet und schrieb hastig mit. Mia betrachtete die Glocke mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Misstrauen.
„Aber wer hat sie versenkt?“ fragte Lea.
„Das weiß niemand genau,“ antwortete Frau Meier. „Aber ich erinnere mich, dass meine Großmutter sagte, dass es eine letzte Läutung gab – eine, die den See erzittern ließ.“
Anna tauschte einen Blick mit Petersen. „Könnte es sein, dass die Glocke mit den Zeichen auf dem Wasser zusammenhängt?“
„Möglich,“ murmelte Petersen. „Aber es gibt nur einen Weg, das herauszufinden.“
„Ihr wollt sie läuten?“ fragte Mia ungläubig.
„Wenn sie wirklich mit dem See verbunden ist, dann könnte es uns Antworten bringen,“ sagte Lukas. „Oder eine neue Spur.“
„Oder wir machen etwas kaputt, das besser in Ruhe bleibt,“ sagte Finn skeptisch.
Anna seufzte und strich sich durchs Haar. „Bevor wir irgendetwas tun, sollten wir mit Frau Lund in der Akademie sprechen. Sie kennt sich mit diesen Symbolen aus.“
„Das ist ein guter Plan,“ sagte Petersen. „Denn wenn diese Glocke wirklich eine Bedeutung hat, dann sollten wir genau wissen, womit wir es zu tun haben.“
Während sich die Gruppe langsam auflöste und die Glocke wieder in ein Tuch gewickelt wurde, konnte Anna das Gefühl nicht loswerden, dass sie an der Schwelle zu etwas Großem standen. Doch ob das, was sie herausfinden würden, eine gute oder eine schlechte Wahrheit war, wusste sie noch nicht.
Am Nachmittag fuhr Anna mit den Kindern zur Akademie Sankelmark. Frau Lund erwartete sie bereits und führte sie in ihr Büro, wo stapelweise alte Bücher und Manuskripte lagen. Anna breitete die Karte und Fotos der Glocke auf dem Tisch aus.
„Interessant,“ sagte Frau Lund und betrachtete die Gravuren auf den Bildern. „Diese Symbole ähneln jenen, die wir auf alten Ritualtafeln gefunden haben. Es gibt eine Theorie, dass diese Glocken nicht nur Werkzeuge der Menschen waren, sondern dass sie in bestimmten Momenten benutzt wurden, um etwas zu aktivieren.“
„Zu aktivieren?“ wiederholte Lukas.
„Vielleicht einen Mechanismus oder ein Ritual,“ sagte Frau Lund. „Aber ich brauche Zeit, um die Aufzeichnungen genauer zu untersuchen.“
„Was, wenn wir sie einfach läuten?“ fragte Mia.
„Dann müsst ihr mit den Konsequenzen leben,“ sagte Frau Lund ruhig.
Es herrschte eine lange Stille.
„Dann sollten wir uns gut überlegen, was wir als Nächstes tun,“ sagte Anna schließlich.
Die Gruppe verließ die Akademie mit mehr Fragen als Antworten. Doch eine Sache wussten sie: Die Glocke war mehr als nur ein Artefakt.
Und sie würde bald ihre Stimme erheben.