
Das Hotel „Seeblick“ lag in den frühen Morgenstunden still da, doch die Lobby war bereits erfüllt von der Energie der Kinder, die über ihren neuesten Fund diskutierten. Der Kristall, den sie in der alten Scheune gefunden hatten, hatte die Glocke aktiviert, und die schwachen Schwingungen und das Leuchten hatten mehr Fragen aufgeworfen, als sie beantworteten. Anna hatte sich zu ihnen gesetzt und hörte aufmerksam zu, während die Kinder ihre Theorien austauschten.
„Der Kristall ist definitiv ein Schlüssel“, sagte Mia und hielt das glänzende Fragment gegen das Licht. „Aber wozu genau?“
„Vielleicht gibt es noch mehr davon“, schlug Finn vor. „Was, wenn wir nur ein Teil eines größeren Puzzles gefunden haben?“
„Das würde Sinn machen“, sagte Lukas. „Aber wie finden wir die anderen Teile?“
„Vielleicht gibt es Hinweise in den anderen markierten Punkten auf der Karte“, sagte Lea. „Oder… vielleicht hier im Hotel.“
Anna runzelte die Stirn und sah zu den Kindern. „Es gibt tatsächlich einen Ort, den ihr noch nicht untersucht habt“, sagte sie. „Die alte Hütte im Garten.“
Die Kinder sahen sie überrascht an. „Welche Hütte?“ fragte Lukas.
„Hinter dem Hotel, am Rand des Gartens“, erklärte Anna. „Sie gehörte früher dem Hausmeister, der hier gearbeitet hat. Seit ich das Hotel übernommen habe, war ich nicht mehr dort. Aber wenn ihr glaubt, dass es helfen könnte, könnt ihr sie euch gerne ansehen.“
Die Kinder beschlossen, sich die Hütte später am Tag anzusehen. Doch zuerst wollten sie weitere Experimente mit dem Kristall und der Glocke durchführen. Sie kehrten in den Keller zurück, wo die kleinere Glocke noch immer auf dem Podest stand. Finn hielt den Kristall erneut über die Glocke, und wie zuvor begann sie zu vibrieren und schwach zu leuchten.
„Es fühlt sich an, als würde sie etwas rufen“, sagte Mia. „Aber was?“
„Vielleicht sollten wir den Kristall mit nach draußen nehmen“, schlug Lukas vor. „Vielleicht reagiert er anders, wenn wir ihn näher zum See bringen.“
Anna, die sie in den Keller begleitet hatte, war skeptisch. „Seid vorsichtig“, warnte sie. „Wenn der Kristall wirklich mit dem See und den Wächtern verbunden ist, könnten wir etwas auslösen, das wir nicht kontrollieren können.“
„Wir passen auf“, versprach Mia.
Später an diesem Tag führten die Kinder den Kristall in den Garten, wo die Sonne durch die Bäume schien und den Raum mit einem goldenen Licht füllte. Der Garten des Hotels war ein wilder, verwunschener Ort, voller alter Rosenbüsche und knorriger Bäume. Am Ende des Gartens, halb verborgen hinter dichtem Efeu, lag die alte Hütte, von der Anna gesprochen hatte.
„Die sieht aus, als würde sie ein Geheimnis verbergen“, sagte Lea, als sie näher traten.
„Oder als würde sie gleich zusammenbrechen“, sagte Finn und betrachtete die schiefe Tür skeptisch.
Lukas schob die Tür auf, die mit einem knarrenden Geräusch aufsprang. Der Innenraum war klein und dunkel, mit einem alten Arbeitstisch, einem zerbrochenen Stuhl und Regalen, die mit staubigen Werkzeugen und alten Büchern gefüllt waren.
„Das hier ist unglaublich“, sagte Mia, als sie eines der Bücher aufschlug. „Es sieht aus wie ein Tagebuch.“
„Vielleicht hat der Hausmeister etwas gewusst“, sagte Lea und blätterte durch die vergilbten Seiten.
Die Kinder fanden mehrere Notizen, die von seltsamen Geräuschen und Lichtern handelten, die der Hausmeister nachts am See beobachtet hatte. Eine Passage stach besonders hervor: „Die Wächter sind nahe. Ich spüre ihre Präsenz in der Nacht, besonders wenn der See still ist. Es gibt mehr als eine Glocke. Sie sind der Schlüssel zum Gleichgewicht.“
„Das bestätigt unsere Theorie“, sagte Lukas. „Es gibt noch mehr von diesen Glocken. Aber wo?“
Während die Kinder in der Hütte forschten, bereitete Anna sich in der Lobby auf die Ankunft eines neuen Gasts vor. Der Mann, der sich als Herr Jonas vorstellte, war groß und trug eine lange, dunkle Jacke. Seine Augen wanderten aufmerksam durch die Lobby, und Anna spürte sofort, dass er anders war als die üblichen Gäste.
„Willkommen im ‚Seeblick‘“, sagte sie freundlich. „Kann ich Ihnen helfen?“
„Ich bin hier, um ein wenig zu forschen“, sagte Herr Jonas mit einem leichten Lächeln. „Der See hat eine faszinierende Geschichte, nicht wahr?“
„Das hat er“, antwortete Anna vorsichtig. „Was genau interessiert Sie daran?“
„Alles“, sagte Jonas. „Die Legenden, die Lichter, die Wächter. Ich habe gehört, dass dies ein Ort voller Geheimnisse ist.“
Anna spürte, wie sich ihre Nackenhaare aufstellten. Dieser Mann wusste mehr, als er zugab. Doch sie wollte nicht zu viel preisgeben. „Nun, ich hoffe, Sie genießen Ihren Aufenthalt“, sagte sie schließlich und überreichte ihm den Schlüssel zu seinem Zimmer.
Zurück im Garten entdeckten die Kinder etwas Seltsames unter einer losen Bodenplanke in der Hütte. Es war ein weiteres Fragment, das dem Kristall ähnelte, den sie bereits gefunden hatten. Doch dieses war größer und schien an einer Seite beschädigt zu sein.
„Das ist definitiv Teil von etwas Größerem“, sagte Finn, als er das Fragment in der Hand drehte.
„Vielleicht ist es ein Teil der größeren Glocke, die wir im Keller gefunden haben“, schlug Mia vor. „Aber warum ist es hier versteckt?“
„Vielleicht, um es vor jemandem zu schützen“, sagte Lea.
„Oder vor etwas“, fügte Lukas hinzu.
Mit ihren neuen Funden kehrten die Kinder ins Hotel zurück, wo sie Anna von dem Fragment und den Notizen aus der Hütte erzählten. Anna hörte aufmerksam zu, doch sie konnte sich keinen Reim darauf machen. „Das hier wird immer komplizierter“, sagte sie schließlich. „Aber wenn es noch mehr Fragmente gibt, müssen wir sie finden.“
„Vielleicht weiß Herr Jonas etwas darüber“, sagte Mia plötzlich.
„Wer ist Herr Jonas?“ fragte Lukas.
„Ein neuer Gast“, erklärte Anna. „Er hat viele Fragen über den See gestellt. Ich habe das Gefühl, dass er mehr weiß, als er sagt.“
„Dann sollten wir mit ihm sprechen“, sagte Lukas entschlossen.
Die Kinder beschlossen, Jonas am nächsten Tag zu beobachten, während Anna weiter die Unterlagen des Hotels durchforstete. Der Kristall und das Fragment schienen wie stille Wächter über ihnen zu thronen, und sie wussten, dass ihre Reise noch lange nicht zu Ende war.