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Episode 26: Schatten über dem See

Der Morgen brach über dem Sankelmarker See an, doch an diesem Tag fühlte sich alles anders an. Der Nebel hing schwer über dem Wasser, dichter als sonst, fast als ob er den See verstecken wollte. Im Hotel Seeblick herrschte bereits reges Treiben. Gäste frühstückten im Speisesaal, während das Summen leiser Gespräche die Luft erfüllte. Der Duft von frisch gebrühtem Kaffee und knusprigen Brötchen lag in der Lobby.

Anna bewegte sich routiniert zwischen den Tischen, schenkte Kaffee nach und begrüßte Gäste mit einem warmen Lächeln. Doch hinter ihrer freundlichen Fassade arbeitete ihr Kopf unaufhörlich. Die letzten Tage waren geprägt von unerklärlichen Phänomenen gewesen: das verschwundene Zeichen, das leuchtende Symbol im See, die geheimnisvollen Gravuren auf der versunkenen Steinplatte. Und dann war da noch das tiefe Grollen, das die Kinder am Vortag gehört hatten. Etwas war dabei, sich zu verändern – und Anna spürte es genauso wie der Rest des Dorfes.

„Frau Anna?“, riss eine Stimme sie aus ihren Gedanken. Ein älterer Gast, Herr Kruse, winkte sie heran. „Gibt es eine Erklärung für das, was letzte Nacht passiert ist?“

Anna stellte die Kaffeekanne ab und zog die Stirn kraus. „Was genau meinen Sie?“

„Ich bin mir sicher, dass ich Schritte gehört habe – direkt vor meiner Zimmertür. Ich habe nachgesehen, aber da war niemand.“

Anna war diese Berichte inzwischen gewohnt. „Es ist ein altes Gebäude, Herr Kruse. Die Wände und Böden knarren oft, wenn das Holz arbeitet.“

„Nein, nein,“ erwiderte er bestimmt. „Das waren Schritte. Und dann dieses Summen… Es war, als ob jemand eine Melodie summt, aber ohne Worte.“

Anna lächelte freundlich. „Ich werde es mir ansehen. Vielleicht ist es nur ein Luftzug durch die Flure.“

Während sie sich wieder ihrer Arbeit widmete, fiel ihr Blick auf die Kinder, die in einer Ecke der Lobby um einen Tisch saßen. Sie hatten ihre Notizbücher ausgebreitet und flüsterten aufgeregt.

„Was habt ihr dieses Mal entdeckt?“ fragte Anna, als sie mit einer Kanne Tee an ihren Tisch trat.

Mia sah auf. „Wir müssen zurück zum See. Die Gravuren auf der Steinplatte haben uns eine neue Spur gegeben.“

„Und das Grollen, das wir gehört haben,“ fügte Lukas hinzu. „Es kam nicht einfach so. Wir glauben, dass es eine Art Reaktion auf unsere Entdeckung war.“

Finn lehnte sich vor. „Vielleicht haben wir eine alte Schutzbarriere ausgelöst. Oder ein Signal gesendet.“

Anna stellte die Teekanne ab und verschränkte die Arme. „Und was genau plant ihr jetzt?“

„Wir gehen zur Akademie Sankelmark,“ sagte Lea. „Frau Lund könnte wissen, was diese Gravuren bedeuten.“

„Seid vorsichtig,“ sagte Anna ernst. „Das hier ist nicht mehr nur ein Spiel. Ihr bewegt euch auf etwas zu, das vielleicht größer ist, als ihr glaubt.“

Die Kinder nickten, bevor sie ihre Sachen packten und das Hotel verließen. Anna beobachtete sie nachdenklich, bevor sie sich wieder um ihre Gäste kümmerte. Doch ein mulmiges Gefühl blieb in ihrer Brust.

Während die Kinder auf dem Weg zur Akademie waren, füllte sich das „Kiek In“ mit den ersten Gästen des Tages. Frau Alva war bereits dabei, frischen Apfelkuchen aus dem Ofen zu holen, als zwei ältere Dorfbewohner am Tresen diskutierten.

„Ich sag’s dir, der See ist nicht mehr derselbe,“ murmelte Herr Mikkel, der alte Fischer. „Früher war er ruhig. Aber jetzt? Seit Tagen passiert hier Seltsames.“

„Und du glaubst, das hat mit den Kindern zu tun?“ fragte Frau Alva skeptisch.

„Vielleicht. Oder mit der Glocke. Oder mit etwas, das sie geweckt haben.“

Frau Alva seufzte und stellte eine dampfende Tasse Tee vor ihn hin. „Der See war schon immer ein Ort voller Geschichten. Ich denke, wir sollten erst einmal abwarten, bevor wir die Schuld bei jemandem suchen.“

Die Kinder erreichten die Akademie Sankelmark am späten Vormittag. Frau Lund erwartete sie bereits und führte sie in ihr Büro, wo sie sich um einen großen Holztisch setzten.

„Ihr habt also eine neue Gravur entdeckt?“ fragte sie, während sie die Notizen der Kinder durchblätterte.

„Ja, und sie ist anders als die anderen,“ erklärte Mia. „Es sieht aus wie eine Art Runenschrift. Können Sie sie lesen?“

Frau Lund zog ein altes Buch aus dem Regal und begann zu blättern. „Diese Zeichen stammen aus einer Zeit, in der der See als heiliger Ort galt. Sie deuten auf eine Verbindung zwischen der Welt der Menschen und dem Wasser hin. Manche glaubten, dass der See ein Tor war – zu etwas, das jenseits unseres Verständnisses liegt.“

Die Kinder sahen sich an. „Und was bedeutet das für uns?“ fragte Lukas.

Frau Lund legte das Buch zur Seite. „Es bedeutet, dass ihr vorsichtig sein müsst. Wenn ihr tatsächlich eine alte Verbindung aktiviert habt, könnte das Konsequenzen haben.“

Die Kinder verabschiedeten sich nachdenklich von Frau Lund und machten sich auf den Rückweg. Während sie am See entlanggingen, schien das Wasser ruhiger als zuvor. Doch als sie sich dem Bootssteg näherten, bemerkten sie etwas Seltsames.

Die Steinplatte, die sie am Vortag gefunden hatten, war verschwunden.

„Das kann nicht sein,“ murmelte Lukas.

„Jemand hat sie entfernt,“ sagte Mia. „Oder etwas.“

In diesem Moment begann der See zu brodeln. Kleine Blasen stiegen auf, als würde etwas unter der Oberfläche erwachen.

„Wir müssen zurück ins Hotel,“ sagte Finn, während er seine Kamera hochhielt. „Das hier ist nicht mehr nur eine Spur. Es ist eine Nachricht.“

Während die Kinder zurückrannten, ahnten sie nicht, dass Anna in diesem Moment eine merkwürdige Entdeckung im Keller des Hotels machte. An der Stelle, wo einst das verschwundene Zeichen war, erschien nun ein neues – in leuchtendem Blau, pulsierend, als würde es auf etwas warten.

Die Geschichte des Sees war noch lange nicht zu Ende.

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