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Episode 27: Ein spannender Alltag im Hotel Seeblick

Die Morgensonne schob sich langsam über die Baumwipfel des Sankelmarker Sees und tauchte das Hotel Seeblick in ein sanftes, goldenes Licht. Der Nebel hatte sich in der Nacht zurückgezogen, doch eine feine Schicht hing noch über dem Wasser und verlieh dem See eine fast unwirkliche Stille. Es war einer dieser Tage, an denen das Hotel lebendig wurde, nicht durch mysteriöse Entdeckungen oder rätselhafte Zeichen, sondern durch das einfache, aber schöne Durcheinander des Alltags.

Anna stand hinter dem Empfangstresen und ließ ihren Blick durch die Lobby schweifen. Gäste kamen und gingen, Koffer wurden über den alten Holzboden gerollt, und der Duft von frisch gebrühtem Kaffee erfüllte die Luft. Es war ein Morgen wie viele andere – und doch wusste sie, dass etwas in der Luft lag. Die Ereignisse der letzten Tage hatten das Dorf aufgewühlt, und obwohl sich niemand offen dazu äußerte, spürte sie die Anspannung in den Gesprächen, die im Speisesaal geführt wurden.

„Guten Morgen, Frau Anna!“, rief eine ältere Dame, die bereits mit einem frisch gebutterten Brötchen an einem der Fensterplätze saß. „Haben Sie gut geschlafen?“

Anna lächelte höflich und nickte. „Wie immer – oder besser gesagt, so gut es eben geht, wenn das halbe Dorf sich über Geister und Lichter im See unterhält.“

Die Dame lachte leise. „Ach, Geschichten. Mein Mann sagt, dass solche Geschichten nur dann aufkommen, wenn die Menschen nichts Besseres zu tun haben.“

„Oder wenn sie eine Wahrheit in sich tragen, die wir noch nicht verstehen“, fügte Anna nachdenklich hinzu.

Bevor sie sich in eine längere Unterhaltung verwickeln lassen konnte, öffnete sich die Eingangstür, und mit einer Mischung aus Kälte und frischer Seeluft betrat Frau Alva das Hotel. In ihren Händen hielt sie eine große Thermoskanne und ein paar frisch gebackene Croissants, die sie wie immer mitgebracht hatte.

„Ich dachte mir, du kannst ein bisschen Unterstützung gebrauchen“, sagte sie grinsend und stellte die Croissants auf den Tresen.

„Du bist ein Engel“, sagte Anna und nahm dankbar die Thermoskanne entgegen. „Komm, setz dich. Ich brauche eine kleine Pause.“

Die beiden Frauen setzten sich an einen der Tische in der Lobby, und für einen Moment war Anna einfach nur eine Hotelbesitzerin, die ihren Kaffee mit einer Freundin trank. Doch das Thema, das über allem schwebte, ließ nicht lange auf sich warten.

„Hast du gehört, was gestern am See passiert ist?“, fragte Alva und nahm einen Schluck ihres Tees. „Man sagt, die Kinder hätten etwas unter Wasser entdeckt.“

Anna nickte langsam. „Ja, sie haben mir davon erzählt. Eine Steinplatte mit Gravuren. Und dann war da dieses Grollen…“

„Ein Zeichen?“

„Vielleicht. Oder eine Warnung.“

Die beiden Frauen schwiegen eine Weile, bis Alva schließlich leise sagte: „Weißt du, als ich ein Kind war, gab es immer Gerüchte über den See. Mein Großvater hat mir erzählt, dass er einmal Lichter gesehen hat – genau wie die, die die Leute heute beschreiben. Aber damals hat niemand darüber geredet. Heute, wo alles dokumentiert und geteilt wird, scheint es unmöglich, solche Geschichten zu ignorieren.“

Anna lehnte sich zurück und betrachtete die geschäftige Lobby. „Vielleicht sollten wir die Vergangenheit ernster nehmen, als wir es tun. Vielleicht hat der See eine Geschichte, die wir nie richtig verstanden haben.“

Während sie sprachen, fiel ihnen auf, dass die Katze des Hotels sich wieder in Schwierigkeiten gebracht hatte. Sie hatte es sich auf dem Tresen gemütlich gemacht und schnurrte genüsslich, während ein Gast versuchte, eine Tasse Kaffee zu retten, die sie beinahe mit ihrem Schwanz umgestoßen hatte.

„Dieses Tier wird mich noch wahnsinnig machen“, murmelte Anna, während sie die Katze vom Tresen hob. Doch Alva lachte nur. „Vielleicht ist sie ja auch ein Wächter des Sees – nur auf vier Pfoten.“

Die Gespräche in der Lobby setzten sich fort. Ein Handwerker, der für eine kleine Reparatur an der alten Treppe ins Hotel gekommen war, erzählte, dass seine Großmutter immer gesagt hatte, dass das Seeblick früher ein Ort war, an dem „die Menschen mit den Geistern sprachen“. Ein anderer Gast, der ein Buch über regionale Mythen las, meinte beiläufig, dass er am Vorabend das Gefühl gehabt hätte, dass das Hotel „auf eine merkwürdige Art lebendig wirkte“.

Anna hörte diese Gespräche mit einer Mischung aus Interesse und Skepsis. Sie wollte nicht in Panik geraten, aber es fiel ihr zunehmend schwerer, die Ereignisse der letzten Wochen als bloße Zufälle abzutun.

Am Nachmittag war das Hotel wieder etwas ruhiger. Anna nutzte die Gelegenheit, um einige alte Unterlagen durchzusehen, die sie in einer Kiste im Archivraum gefunden hatte. Darunter befanden sich Pläne des Hotels aus den 1920er Jahren – und auf einem dieser Pläne war eine Markierung eingezeichnet, die sie nicht kannte.

„Was ist das?“, murmelte sie, während sie das Dokument genauer betrachtete. Es war eine kleine, kaum lesbare Notiz am Rand der Karte. Dort stand: „Kammer unter der Treppe – Verbindung zu den alten Wegen?“

Anna runzelte die Stirn. Sie hatte nie von einer Kammer unter der Treppe gehört. Vielleicht war es nur eine vergessene Abstellkammer – oder vielleicht etwas viel Bedeutenderes.

Während sie darüber nachdachte, kamen die Kinder zurück ins Hotel. Sie waren aufgeregt und hatten neue Informationen aus der Akademie Sankelmark mitgebracht.

„Wir haben etwas gefunden“, sagte Lukas atemlos. „Die Gravuren auf der Steinplatte könnten mit einer alten Schutzformel in Verbindung stehen.“

„Und Frau Lund glaubt, dass das Ritual, das damit verbunden war, nicht nur eine Schutzfunktion hatte, sondern auch dazu diente, etwas zu verbergen“, fügte Mia hinzu.

Anna betrachtete die Kinder nachdenklich. „Dann scheint es, als ob wir bald eine weitere Reise in die Vergangenheit unternehmen müssen.“

Während der Abend über das Hotel Seeblick hereinbrach, war das Gefühl der Unruhe immer noch da. Doch es wurde begleitet von einer wachsenden Entschlossenheit – einer Entschlossenheit, die Wahrheit herauszufinden, egal, welche Schatten sie aufdecken würden.

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