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Episode 29: Das Grollen aus der Tiefe

Der Morgen über dem Sankelmarker See war ruhig, fast zu ruhig. Der Nebel hing schwer über dem Wasser, und das Hotel Seeblick war in ein sanftes, goldenes Licht getaucht. Anna stand in der Lobby und nippte an ihrem Kaffee, während sie durch das große Fenster auf den See hinausblickte. Irgendetwas fühlte sich anders an. Die letzten Tage hatten eine neue Unruhe ins Dorf gebracht, und sie konnte es in den Gesprächen der Gäste hören. Jeder schien etwas bemerkt zu haben – ein Geräusch in der Nacht, eine unheimliche Stille am Morgen oder das Gefühl, beobachtet zu werden.

Während sie in Gedanken versunken war, öffnete sich die Tür, und Frau Alva trat herein, die Hände tief in ihre Schürzentaschen vergraben. „Anna, ich weiß nicht, ob du es schon gehört hast, aber heute Morgen hat einer der Fischer geschworen, dass etwas unter seinem Boot war. Etwas Großes.“

Anna stellte ihre Tasse ab. „Was meinst du mit ‚etwas Großes‘?“

„Er sagt, sein Boot wurde fast umgestoßen. Er war draußen, um früh Fische zu fangen, aber dann hat er gespürt, wie etwas unter ihm entlangglitt. Es war kein Baumstamm oder eine Strömung – er meint, es war lebendig.“

Anna lehnte sich gegen den Tresen und rieb sich die Schläfen. „Das wird das Dorf nicht beruhigen.“

„Ganz im Gegenteil,“ sagte Alva. „Die Leute reden. Manche glauben, es habe mit den Kindern zu tun.“

„Das ist doch Unsinn,“ erwiderte Anna schnell. „Aber wir sollten herausfinden, was dort draußen wirklich vor sich geht.“

Während die beiden Frauen sprachen, saßen Lukas, Mia, Finn und Lea an ihrem üblichen Tisch in der Ecke der Lobby. Sie waren in eine angeregte Diskussion vertieft, ihre Köpfe über Notizbücher und Karten gebeugt.

„Wir müssen zurück zum See,“ sagte Lukas entschlossen. „Die Steinplatte ist verschwunden, und jetzt behauptet ein Fischer, dass sich etwas unter seinem Boot bewegt hat. Das kann kein Zufall sein.“

„Vielleicht ist es ein natürlicher Vorgang,“ überlegte Mia. „Der See verändert sich, genau wie alles andere in der Natur.“

„Oder er reagiert auf das, was wir getan haben,“ warf Finn ein. „Wir haben das Zeichen entdeckt, die Glocke aktiviert und dann… ist die Platte verschwunden. Vielleicht haben wir etwas geweckt.“

„Das klingt, als würde uns eine alte Horrorlegende einholen,“ murmelte Lea.

„Egal, was es ist,“ sagte Lukas, „wir müssen es herausfinden.“

Anna trat an ihren Tisch. „Bevor ihr irgendwelche verrückten Ideen habt – ihr habt gehört, was heute Morgen passiert ist. Der See ist unruhig, und ich will nicht, dass ihr euch in Gefahr begebt.“

„Wir sind vorsichtig,“ versprach Mia. „Aber wenn wir nichts tun, werden die Leute sich weiterhin Geschichten erzählen, die vielleicht gar nicht stimmen.“

Anna seufzte und wusste, dass sie die Kinder nicht davon abhalten konnte. „In Ordnung. Aber bleibt in der Nähe des Ufers. Und wenn etwas Seltsames passiert, kommt ihr sofort zurück.“

Die Kinder nickten eifrig, bevor sie sich auf den Weg zum See machten.

Währenddessen lief der Alltag im Hotel weiter. Ein Gast, der schon seit einer Woche hier war, beschwerte sich über „komische Geräusche“ in seinem Zimmer, während ein anderer sich darüber freute, dass er endlich eine perfekte Aussicht auf den Sonnenaufgang hatte. Die Katze des Hotels hatte es sich derweil zur Aufgabe gemacht, jede Möglichkeit zu nutzen, um sich in die Speisekammer zu schleichen – ein Vorhaben, das Anna immer wieder mit einem Augenzwinkern beobachtete.

Doch trotz der alltäglichen Ereignisse konnte Anna die Unruhe nicht abschütteln. Irgendetwas lag in der Luft. Und sie hatte das Gefühl, dass der See eine Antwort darauf hatte.

Die Kinder erreichten den Steg und sahen sich vorsichtig um. Das Wasser war ruhig, doch eine eigenartige Spannung lag darin.

„Seht ihr das?“ fragte Lukas und deutete auf eine Stelle etwas weiter draußen. „Das Wasser bewegt sich.“

„Das ist keine normale Strömung,“ sagte Mia.

Plötzlich kam der Fischer, von dem Alva gesprochen hatte, aus dem Dorf gerannt. „Bleibt weg vom Wasser!“ rief er und winkte wild mit den Armen.

„Was ist los?“ fragte Lea.

„Es ist wieder da,“ sagte der Mann atemlos. „Ich schwöre es euch – es war da unten. Ich habe die Schatten gesehen.“

Die Kinder tauschten einen Blick. War es möglich, dass sich unter der Wasseroberfläche wirklich etwas regte?

Gerade als sie sich dem Steg weiter näherten, begann das Wasser vor ihnen zu brodeln. Ein dumpfes, tiefes Grollen drang durch die Luft – nicht laut, aber spürbar.

„Das ist genau das Geräusch von unserer Aufnahme,“ sagte Finn mit aufgerissenen Augen.

„Es kommt von unten,“ sagte Mia. „Aber was ist es?“

„Vielleicht die Wächter,“ flüsterte Lea.

Das Wasser bewegte sich nun stärker, als ob etwas Großes darunter kreiste. Die Kinder machten vorsichtig ein paar Schritte zurück.

„Wir sollten das Hotel verständigen,“ sagte Lukas. „Anna muss davon erfahren.“

Während sie sich umdrehten, bemerkten sie am Rande des Nebels eine Gestalt. Jemand beobachtete sie.

„Ist das… Jonas?“ fragte Mia.

Doch als sie näher hinsahen, war die Gestalt bereits verschwunden.

„Er war hier,“ sagte Lukas. „Aber warum versteckt er sich?“

Die Kinder rannten zurück zum Hotel, während sich der Nebel erneut über den See legte, als würde er das Gesehene verschlucken.

Zurück im Hotel wartete Anna bereits auf sie. „Was ist passiert?“

„Das Grollen war wieder da,“ sagte Lukas außer Atem. „Und Jonas hat uns beobachtet.“

Anna runzelte die Stirn. „Wir müssen mit ihm reden.“

Doch als sie in sein Zimmer gingen, war Jonas nicht mehr da. Seine Sachen lagen noch dort, aber er selbst war verschwunden.

„Das ist nicht gut,“ sagte Mia leise.

Anna schüttelte den Kopf. „Nein, ist es nicht.“

Während das Hotel zur Ruhe kam und sich die Nacht über den See legte, wussten sie alle, dass dies erst der Anfang war. Das Gleichgewicht des Sees war gestört – und die Antwort lag nicht nur im Wasser, sondern auch in der Vergangenheit des Hotels selbst.

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