
Der Morgen über dem Sankelmarker See war von einer trügerischen Ruhe durchzogen. Die ersten Sonnenstrahlen kämpften sich durch den dichten Nebel, der wie ein schweres Tuch über dem Wasser lag. Das Hotel Seeblick erwachte langsam zum Leben, während sich die ersten Gäste im Speisesaal einfanden, um den Tag mit einer heißen Tasse Kaffee und frischen Brötchen zu beginnen. Der Duft von geröstetem Brot und warmem Tee lag in der Luft, vermischt mit den leisen Gesprächen der Besucher.
Anna stand hinter dem Empfangstresen und ließ den Blick durch die Lobby schweifen. Es war ein Morgen wie viele andere – doch sie spürte, dass etwas in der Atmosphäre lag. Die letzten Tage waren von seltsamen Ereignissen überschattet worden. Die Entdeckung der alten Kammer im Keller, die verschwundene Steinplatte im See, das unerklärliche Grollen aus der Tiefe. Und nun die Unruhe unter den Dorfbewohnern. Die Geschichten über die Wächter des Sees, die früher nur als Legenden belächelt wurden, gewannen zunehmend an Gewicht.
„Frau Anna, Ihr Kaffee,“ riss sie die vertraute Stimme von Frau Alva aus ihren Gedanken. Die ältere Dame stellte eine dampfende Tasse auf den Tresen und musterte Anna mit neugierigen Augen. „Du wirkst besorgt.“
Anna nahm dankend einen Schluck. „Ich weiß nicht, Alva. Es ist nur… all diese Dinge, die passieren. Das Hotel fühlt sich manchmal an, als würde es atmen. Die Wände knarren, Türen öffnen sich von selbst, und dann erzählen mir Gäste, dass sie in der Nacht Schritte gehört haben.“
„Vielleicht ist es nur die Geschichte, die sich ihren Weg zurück ins Jetzt bahnt,“ sagte Alva mit einem leichten Schmunzeln. „Oder vielleicht hast du einfach zu wenig geschlafen.“
„Beides ist möglich,“ gab Anna zu und lehnte sich gegen den Tresen. „Aber was ist mit dem See? Die Kinder haben gestern wieder etwas entdeckt. Und heute Morgen kam ein Fischer ins Dorf gerannt, völlig aufgelöst. Er sagte, sein Boot sei fast gekentert, weil etwas unter ihm entlanggeschwommen sei.“
Frau Alva nahm einen Schluck Tee und stellte ihre Tasse bedächtig ab. „Weißt du, Anna, manchmal frage ich mich, ob dieser See nicht selbst eine Art Gedächtnis hat. Vielleicht reagiert er auf das, was ihr getan habt.“
Bevor Anna antworten konnte, sprang die Katze des Hotels mit einem eleganten Satz auf den Empfangstresen und strich schnurrend um Alvas Teetasse. „Und was denkst du, hm?“ fragte Alva belustigt, während sie das Tier kraulte. „Vielleicht hast du ja die Antworten.“
Anna schüttelte den Kopf und lachte. „Ich wünschte, es wäre so einfach.“
Während sie noch sprachen, betraten Lukas, Mia, Finn und Lea das Hotel. Sie sahen aufgeregt aus, aber nicht besorgt – ein Zeichen dafür, dass sie vermutlich eine neue Spur gefunden hatten.
„Anna!“, rief Lukas. „Wir müssen mit dir sprechen.“
Anna hob eine Augenbraue. „Ihr habt doch nicht schon wieder einen unterirdischen Raum entdeckt, oder?“
„Nein, nicht ganz,“ sagte Mia. „Aber es geht um Jonas.“
„Was ist mit ihm?“
„Er ist verschwunden,“ erklärte Finn. „Und nicht nur das – sein Zimmer sieht aus, als wäre er in Eile weggegangen. Seine Sachen sind noch da, aber er selbst ist weg.“
Anna runzelte die Stirn. „Das ist ungewöhnlich. Hat ihn jemand gesehen?“
„Nein,“ sagte Lea. „Aber die Dorfbewohner reden bereits. Sie sagen, dass er wusste, was passiert, und deshalb verschwunden ist.“
Anna seufzte. „Lasst mich sein Zimmer ansehen.“
Gemeinsam gingen sie in den oberen Flur. Jonas’ Zimmertür war nicht verschlossen. Als sie eintraten, fanden sie tatsächlich seine Sachen vor – sorgfältig gepackt, als hätte er vorgehabt, abzureisen, aber etwas hatte ihn davon abgehalten. Auf dem Nachttisch lag ein Notizbuch, offen auf einer Seite mit hastig geschriebenen Sätzen:
„Das Gleichgewicht verschiebt sich. Der See ruft. Wenn die Glocke erneut erklingt, wird alles anders sein.“
Anna spürte, wie sich ein Schauer über ihren Rücken zog. „Was, wenn er nicht einfach gegangen ist? Was, wenn er auf etwas gewartet hat?“
„Oder auf jemanden,“ sagte Lukas leise.
Während sie in dem stillen Raum standen, begann draußen ein leiser Wind aufzuziehen. Der See lag still da, doch sie alle wussten, dass dies nicht mehr lange so bleiben würde.