Zum Inhalt springen

Episode 32: Ein Tag in Sankelmark

Der Morgen brach über dem kleinen Dorf Sankelmark an, und mit ihm erwachte das Leben auf den Straßen. Die Luft war frisch und klar, der See lag still da, nur gelegentlich von den sanften Bewegungen eines Fischerbootes durchbrochen. Im Dorf selbst begannen die ersten Geschäfte zu öffnen, und in den Fenstern der Häuser leuchteten die Lichter der Küchen, in denen das Frühstück zubereitet wurde.

Im Café „Kiek In“ herrschte bereits geschäftiges Treiben. Frau Alva, die unermüdliche Seele des Cafés, balancierte geschickt zwischen den Tischen, während sie mit den Gästen plauderte und dampfende Tassen Tee und Kaffee servierte. Die älteren Dorfbewohner saßen an ihren Stammplätzen, lasen die Zeitung und tauschten die neuesten Neuigkeiten aus.

„Hast du es gehört?“ fragte Herr Petersen, ein Fischer, der seit Jahrzehnten am See arbeitete. „Jansen sagt, sein Boot sei fast umgestoßen worden. Etwas habe sich unter ihm bewegt.“

„Ach, Jansen übertreibt doch immer,“ brummte Frau Meier und rührte in ihrem Tee. „Letzte Woche hat er behauptet, er hätte die Lichter über dem See gesehen. Die alten Geschichten kehren halt immer wieder zurück.“

Frau Alva hörte zu, während sie einem Gast frischen Apfelkuchen servierte. „Vielleicht ist an diesen alten Geschichten mehr dran, als wir denken,“ sagte sie nachdenklich. „Ich erinnere mich daran, dass mein Großvater immer sagte: ‚Der See vergisst nichts.‘“

Während die Diskussionen weitergingen, betrat Anna das Café, eine Pause vom morgendlichen Trubel im Hotel suchend. Sie setzte sich an den Tresen und bestellte wie gewohnt einen schwarzen Kaffee.

„Und, wie läuft es im Seeblick?“ fragte Frau Alva, während sie ihr die Tasse reichte.

Anna seufzte und nahm einen Schluck. „Es läuft… aber ich habe das Gefühl, dass das Hotel auf das alles reagiert. Die Gäste beschweren sich über seltsame Geräusche, und gestern Nacht hatte ich das Gefühl, dass die Wände atmen.“

„Klingt, als wäre das Seeblick mehr als nur ein Gebäude,“ meinte Alva mit einem leichten Lächeln. „Vielleicht trägt es seine eigene Erinnerung.“

Anna schmunzelte. „Das würde einiges erklären. Aber wie gehe ich damit um? Ich kann ja schlecht in die Buchungsbestätigung schreiben: ‚Achtung, das Hotel könnte Erinnerungen haben.‘“

Während sie sprachen, klappte die Tür auf, und eine Gruppe von Kindern stürmte ins Café – Lukas, Mia, Finn und Lea, die nach ihrem morgendlichen Spaziergang eine kurze Pause einlegen wollten.

„Guten Morgen!“, rief Lukas fröhlich, während er sich auf einen der Stühle fallen ließ. „Was gibt’s Neues?“

„Nichts, was euch betreffen würde,“ sagte Herr Petersen und blätterte weiter in seiner Zeitung. „Außer, dass ihr wieder irgendetwas Mysteriöses aufgestöbert habt?“

„Nein, heute nicht,“ sagte Mia mit gespielter Unschuld. „Heute genießen wir einfach die beste heiße Schokolade im Dorf.“

„Das freut mich zu hören,“ sagte Frau Alva und stellte vier große Tassen vor ihnen ab.

Während die Kinder scherzten und lachten, wurde draußen auf dem Marktplatz bereits die nächste Szenerie des Dorflebens aufgebaut. Händler stellten ihre Stände auf, verkauften frisches Brot, Obst und Gemüse, während ein paar ältere Damen sich über die neuesten Gerüchte austauschten.

„Ich sage euch, es gibt wieder seltsame Träume,“ sagte eine von ihnen. „Letzte Nacht habe ich von einem Licht gesehen, das über dem See schwebte.“

„Vielleicht solltest du weniger Tee trinken vor dem Schlafengehen,“ entgegnete eine andere lachend.

Doch nicht jeder im Dorf fand die Gerüchte amüsant. Die Unruhe wuchs, und immer mehr Menschen erinnerten sich an die alten Geschichten, die mit dem See und seinen Wächtern verbunden waren.

Gegen Mittag kehrte Anna ins Hotel Seeblick zurück. Die Lobby war voller Leben – Gäste checkten ein, ein älteres Ehepaar saß mit einer Zeitung im Sessel, während im Hintergrund das Personal damit beschäftigt war, das Mittagessen vorzubereiten. Alles schien normal, doch Anna konnte nicht vergessen, was Alva gesagt hatte. Konnte es wirklich sein, dass das Hotel selbst eine Erinnerung trug?

Während sie in ihr Büro ging, fiel ihr Blick auf die Gästebücher, die sie in den letzten Wochen durchgesehen hatte. Sie öffnete eines der älteren und blätterte durch die Seiten. Dann stoppte sie. Ein Eintrag aus dem Jahr 1965: „Manchmal spürt man es. Das Seeblick lebt. Es vergisst nichts.“

Anna schluckte. Sie wusste, dass sie bald Antworten brauchen würde.

Schreibe einen Kommentar

×