
Die Nachmittagssonne tauchte die Landschaft in warmes Licht, als Anna und die Kinder die schmale Straße entlangfuhren, die sie zu einem längst vergessenen Ort führte. Die Karte aus dem Flensburger Stadtarchiv hatte ihnen den Weg gewiesen – ein altes Gutshaus, das einst in Verbindung mit der Kirche von Oeversee stand. Doch heute war von dem Gebäude kaum noch etwas übrig. Nur wenige Menschen aus dem Dorf konnten sich daran erinnern, und die meisten taten es mit einem Schulterzucken ab.
„Ich glaube, wir sind da,“ sagte Anna und parkte den Wagen am Rand eines schmalen Waldwegs. Vor ihnen ragten die Überreste des Gutshauses aus dem hohen Gras – moosbedeckte Steinmauern, die von der Zeit gezeichnet waren, und ein paar alte Säulen, die sich noch tapfer gegen die Natur stemmten.
„Das sieht aus wie eine dieser alten Rittergutsruinen,“ murmelte Finn, während er sich den Rucksack über die Schultern warf.
„Ich hätte nicht gedacht, dass es noch so viel davon gibt,“ sagte Mia, während sie vorsichtig über den feuchten Waldboden schritt.
Petersen, der wieder mitgekommen war, schüttelte den Kopf. „Früher war dies ein Herrenhaus. Es wurde irgendwann im 19. Jahrhundert aufgegeben. Aber warum genau, das weiß niemand mehr.“
„Vielleicht, weil etwas hier begraben wurde,“ überlegte Lukas laut.
„Oder jemand wollte, dass es vergessen wird,“ fügte Lea hinzu.
Während sie weiter auf die Ruinen zugingen, bemerkte Anna, dass die Umgebung noch immer von einer gewissen Ordnung geprägt war. Obwohl das Gebäude selbst verfiel, führte ein schmaler, fast unsichtbarer Pfad in die Tiefe des Geländes, als ob hier einst Gärten oder Wege gewesen waren.
„Das fühlt sich nicht an wie ein Ort, der einfach nur verfallen ist,“ sagte Anna nachdenklich.
Sie betraten die Ruinen und bewegten sich vorsichtig zwischen den alten Mauern. Ein paar Steinstufen führten in das, was einmal der Keller gewesen sein musste. Mia leuchtete mit ihrer Taschenlampe hinein. „Das sieht tief aus. Vielleicht war das hier ein Lagerraum?“
„Oder eine Kapelle,“ murmelte Petersen. „Viele dieser alten Häuser hatten eigene Kapellen. Es gibt Gerüchte, dass manche von ihnen verborgene Räume hatten.“
„Dann sollten wir uns das ansehen,“ sagte Lukas entschlossen.
Die Gruppe stieg vorsichtig die Treppe hinab, die von feuchtem Moos bedeckt war. Der Keller war größer als erwartet, ein weitläufiger Raum mit gewölbter Decke. Die Luft war kühl und roch nach Erde und Stein.
„Seht euch das an,“ sagte Finn und deutete auf die Wand. Dort waren Symbole in den Stein geritzt – ähnlich denen, die sie bereits in der St.-Georg-Kirche und auf der Glocke gesehen hatten.
„Das ist unglaublich,“ sagte Mia. „Warum ist das hier?“
„Vielleicht wurde hier etwas bewahrt,“ sagte Anna. „Oder versteckt.“
Sie tastete mit der Hand über die Wand, bis ihre Finger eine Vertiefung fanden. Ein schwaches Relief, das nur aus einem bestimmten Winkel sichtbar war.
„Hier ist etwas,“ sagte sie.
Mit vereinten Kräften schoben sie gegen die Mauer, und mit einem dumpfen Klicken bewegte sich ein Teil des Steins zur Seite. Dahinter lag ein kleiner, verborgener Raum – kaum mehr als ein Verschlag, doch in ihm befand sich eine steinerne Truhe.
„Wir haben etwas gefunden,“ flüsterte Lukas.
Die Gruppe trat näher, während Anna vorsichtig den Deckel öffnete. Im Inneren lag ein vergilbtes Buch, sorgfältig eingewickelt in ein altes Tuch.
„Ein Tagebuch?“ fragte Finn.
Anna nahm es vorsichtig heraus und blätterte durch die ersten Seiten. Die Schrift war alt, aber noch lesbar.
„Es gehört jemandem namens Friedrich Hartmann,“ sagte sie leise.
„Hartmann?“ wiederholte Petersen. „Diesen Namen habe ich schon einmal gehört.“
„Er muss mit dem Hotel Seeblick verbunden gewesen sein,“ überlegte Anna.
Die Kinder lehnten sich gespannt näher heran. Die erste lesbare Zeile im Tagebuch lautete: *’Ich weiß, was der See bewahrt. Doch nicht alles, was verborgen ist, sollte ans Licht kommen.’*
Während sie dort in den alten Gemäuern standen, wurde ihnen klar, dass sie gerade ein weiteres Stück des Rätsels gefunden hatten.