
Jonas erinnerte sich nicht genau daran, wann es begonnen hatte. Es war nicht ein einzelner Moment, kein klarer Tag in seiner Kindheit, sondern eher eine Sammlung von flüchtigen Erinnerungen, Bildern und Gefühlen, die sich zu etwas Formlosem, aber Bedrückendem zusammengesetzt hatten. Doch es gab eine Nacht, an die er sich immer wieder erinnerte – die Nacht, in der er das erste Mal das Flüstern des Sees gehört hatte.
Er war damals ein Junge gewesen, vielleicht zehn oder elf Jahre alt. Seine Eltern hatten ihn in den Sommerferien oft zu seinem Großvater geschickt, einem alten Fischer, der ein kleines Haus am Sankelmarker See bewohnte. Jonas hatte es geliebt, dort zu sein – die langen Tage auf dem Wasser, die Lagerfeuer am Ufer, die Geschichten, die sein Großvater ihm erzählte. Geschichten über den See, die Wächter, die Legenden des Dorfes. Geschichten, die damals wie alte Märchen geklungen hatten, doch die mit jedem Jahr realer wurden.
In jener Nacht war er aufgewacht, ohne zu wissen, warum. Das kleine Zimmer roch nach Holz und altem Papier, und durch das Fenster konnte er den See sehen, ruhig und dunkel unter dem Sternenhimmel. Doch es war nicht nur die Stille, die ihn geweckt hatte – es war ein Geräusch. Ein leises Summen, ein Schwingen in der Luft, das fast wie eine Stimme klang.
Neugierig hatte er sich aus dem Bett geschlichen, barfuß auf den kalten Holzboden getreten und das Fenster weiter geöffnet. Das Geräusch kam von draußen. Es war, als ob der See atmete, als ob er ihn rief.
Ohne lange nachzudenken, zog er sich schnell seine Jacke über, nahm eine Taschenlampe und verließ das Haus. Der Mond stand hoch am Himmel, und der See lag wie eine glatte, schwarze Oberfläche vor ihm. Doch direkt am Ufer war etwas anders – schwache, leuchtende Wellen breiteten sich aus, obwohl kein Wind zu spüren war. Es war, als ob etwas tief unter der Oberfläche erwachte.
Jonas trat näher, seine Finger umklammerten das alte Notizbuch seines Großvaters, das er mitgenommen hatte. Er wusste nicht warum, aber etwas in ihm sagte ihm, dass er sich alles merken musste, was er in dieser Nacht sah.
Er kniete sich hin und berührte das Wasser. Es war seltsam warm, als ob es von innen heraus glühte. Und dann hörte er es – das Flüstern.
Es war keine Sprache, die er kannte, kein direktes Wort oder Satz, sondern eher ein Gefühl. Eine Präsenz. Ein Ruf, der sich durch ihn zog, als ob der See ihm etwas mitteilen wollte. Er schloss die Augen, und für einen Moment fühlte es sich an, als wäre er schwerelos, als würde der See ihn in sich aufnehmen.
Dann ein plötzlicher Ruck.
Jonas fiel zurück auf den Boden, keuchend, sein Herz schlug wild in seiner Brust. Das Leuchten war verschwunden, das Wasser lag wieder still da. Aber das Gefühl blieb. Die Erkenntnis, dass er etwas erlebt hatte, das nicht für ihn bestimmt gewesen war.
Am nächsten Morgen hatte sein Großvater ihn nur lange angesehen, als ob er wusste, wo Jonas in der Nacht gewesen war. Doch anstatt ihn zu tadeln, hatte er nur leise gesagt: „Manche Dinge am See sollte man nicht berühren, Junge.“
Aber es war zu spät gewesen. Etwas in Jonas hatte sich verändert.
Von diesem Tag an hatte er begonnen, Nachforschungen anzustellen. Er hatte alte Bücher gelesen, mit den Ältesten im Dorf gesprochen, heimlich Aufzeichnungen gemacht. Er hatte verstanden, dass der See mehr war als nur ein Gewässer – er war ein Wächter, ein Hüter von etwas, das tief unter seiner Oberfläche lag. Etwas, das nicht geweckt werden durfte.
Und doch hatte er es wiedergefunden.
Jahre später, als Erwachsener, war er zurückgekehrt. Die alten Geschichten hatten ihn nie losgelassen, und als er gehört hatte, dass das Hotel Seeblick wiedereröffnet wurde, wusste er, dass es an der Zeit war, Antworten zu finden. Doch nun, wo er hier war, spürte er die gleiche Unruhe wie damals als Kind.
Der See bewegte sich wieder. Die Zeichen kehrten zurück. Und Jonas wusste, dass sie sich einer Wahrheit näherten, die besser verborgen geblieben wäre.